Interview mit Hans Rainer Sepp über seine Lehrtätigkeit und einige Forschungsprojekte an unserer Fakultät, seine philosophische Arbeit und auch seine wissenschaftliche Pläne.
Hans Rainer Sepp arbeitet vor allem in diesen Gebieten: Phänomenologie, Ethik, Ästhetik, Interkulturelle Philosophie, Philosophische Anthropologie. Nach Untersuchungen zu den praktisch-ethischen Konsequenzen der phänomenologischen Veränderung des Weltbezugs am Beispiel des Problems der Grenze, der Bildstruktur und des Lebensbegriffs beschäftigt sich Sepp vor allem mit dem Konzept einer „Philosophischen Europa-Forschung“ und mit einer auf der Grundlage einer erneuerten Phänomenologie der Leiblichkeit erarbeiteten „Oikophilosophie“.
Herr Sepp, könnten Sie bitte den Bereich Ihres wissenschaftlichen Interesses beschreiben?
In den letzten Jahren befasse ich mich schwerpunktmäßig mit der Ausarbeitung einer ‚oikologischen Philosophie’ (von griech. oikos, ‚Haus’). Dabei geht es darum, die Bedingungen aufzuzeigen, unter denen menschliche Existenz aufgrund ihrer leiblichen Organisation sich in Welt verortet, in ihr ‚zuhause‘ wird, und in Bereiche von Gesellschaft und Natur verändernd einzugreifen vermag. Oikologie bezieht sich also nicht auf die philosophische Beurteilung von Handlungen selbst, etwa im Rahmen einer Ethik, und analysiert nicht faktische Transformationsprozesse wie die Kulturwissenschaften, sondern ihr Ort liegt noch vor einer Ethik z. B. der Ökonomie oder Ökologie und vor kulturwissenschaftlichen Analysen. Kulturwissenschaftliche Untersuchungen können jedoch Material für oikologische Fragestellungen bereitstellen, wie überhaupt Oikologie nur im interdisziplinären Austausch zu verwirklichen ist.
In den letzten vier Semestern habe ich versucht, den Grundriss einer solchen Oikologie zu entwerfen, das Thema bleibt aber weiterhin Aufgabe für mich. In den kommenden Semestern wende ich mich verstärkt der Erschließung des philosophischen Gehalts von Artefakten und Fragen der Interkulturellen Philosophie zu. Daneben konzentriere ich mich auf die Zeit des europäischen Denkens zwischen 1400 und 1800, und zwar im Kontext der oikologischen Frage, wie die Entstehung der modernen Wissenschaften nicht nur mit Mantik (‚Seherkunst’), sondern auch mit Magie zusammenhängt und inwiefern Mantik und Magie vor allem den Naturwissenschaften bis heute immanent ist.
An der Fakultät für Geisteswissenschaften arbeiten Sie schon seit vielen Jahren, erinnern Sie daran, wie Sie an unserer Fakultät gekommen sind?
Das war im Jahr 2004. Ich kam an die Fakultät auf Initiative von Karel Novotný und Jan Sokol. Das erste Seminar gab ich hier im Frühjahr 2005 gemeinsam mit Karel Novotný. Davor war ich am Center for Theoretical Study (CTS) und hatte am Aufbau des Centrum fenomenologických bádání (CFB) mitgewirkt. Dort traf ich auch mit Ladislav Benyovszky, unserem gegenwärtigen Dekan, das erste Mal zusammen, als es um die Frage nach der zukünftigen Organisation des Zentrums für Phänomenologie ging. Es ist sehr erfreulich, dass nun gerade an unserer Fakultät unter der Leitung von Aleš Novák das Zentrum für phänomenologische Forschung neu entstehen konnte.
Meinen Sie, dass unsere Fakultät während dieser Jahre in irgendwelcher Weise verändert hat? Sind das Ihrer Meinung nach eher positive oder negative Veränderungen?Das kann ich nur aus meiner sehr beschränkten Perspektive beantworten. Ein wichtiger Schritt war gewiss die Bereitschaft der Fakultät, an dem von der Europäischen Union geförderten Projekt „Deutsche und französische Philosophie“ teilzunehmen, das 2007 begann und von Karel Novotný geleitet wird. Novotný ist es auch zu verdanken, dass die FHS an diesem Verbundprojekt beteiligt ist, das seitdem Studierende aus vielen Ländern anzieht. Eine Konsequenz davon war die Einführung eines deutschsprachigen Master- und Promotionsprogramms im selben thematischen Bereich. Dafür, dass dies zustande kam, bin ich den Kolleginnen und Kollegen, und allen voran dem Dekan Ladislav Benyovszky, zu großem Dank verpflichtet
Neben Ihrer Lehrtätigkeit nehmen Sie auch an der wissenschaftlichen Arbeit teil. In welchen Forschungsprojekten engagieren Sie sich in der letzten Zeit?
Mit Karel Novotný leite ich seit 2010 das Forschungsprojekt „Philosophical Investigations of Body Experiences: Transdisciplinary Perspectives“, das von GACR gefördert und an unserer Fakultät und der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik durchgeführt wird. Daneben habe ich die ehrenamtliche Funktion des Direktors des Eugen Fink-Archivs in Freiburg und bin mitverantwortlich für die Herausgabe von Finks Gesammelten Werken; ich fungiere auch als Vorsitzender des Internationalen Forums Münchner Phänomenologie und der Zen-Akademie Freiburg. Hinzu kommt die Herausgabe von fünf Buchreihen zur Philosophie. Speziell für begabte Studierende im Masterstudiengang habe ich eine Junior-Buchreihe gegründet, die libri virides. Die Reihe erscheint in einem Verlag, der keinen Zuschuss zu den Druckkosten verlangt (www.bautz.de), und man kann auf Deutsch und auf Englisch publizieren. Ich möchte alle Studierenden, die ein interessantes Publikationsprojekt haben, sehr herzlich einladen, sich bei mir zu melden.
Neben Engagement an der Fakultät für Geisteswissenschaften sind Sie auch Direktor des Mitteleuropäischen Instituts für Philosophie in Prag (Central-European Institute of Philosophy), das ein gemeinsames Projekt von Karls-Universität Prag und der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik ist. Haben diese zwei Institutionen irgendwelche Zusammenprojekte?
Das Středoevropský institut pro filosofii (SIF) leite ich gemeinsam mit Karel Novotný. Das gegenwärtige Hauptvorhaben ist das erwähnte GACR-Projekt, an dem auch Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler teilnehmen. Meine gesamte Arbeit, einschließlich meiner Editionstätigkeit, firmiert unter dem Institut und damit unserer Fakultät, da ich nur an der FHS tätig bin und meine Tätigkeit am SIF somit in vollem Ausmaß unserer Fakultät zugute kommt.
An unserer Fakultät sind Sie Garant des Studienprogramms Philosophie, Studiengang Deutsche und französische Philosophie in Europa (Europhilosophie), der nicht nur Masterstudium, aber auch Doktorstudium in tschechischer, aber auch in deutscher und französischer Sprache bietet. Haben Sie in diesen fremdsprachigen Studiengängen mehr tschechische oder ausländische Studierende? Wie bewerten Sie diese Situation?
Da das Programm erst 2012 begonnen hat, stehen wir erst am Anfang, und die Zahl der eingeschriebenen Studenten ist noch niedrig. Im Masterstudiengang überwiegt die Zahl der tschechischen Studierenden, nicht aber im Promotionsstudiengang. Dort betreue ich gegenwärtig acht Personen, zwei weitere schließen in diesem Jahr ab. Sie kommen aus Mexiko, China, Japan, dem Iran, aus Frankreich, Deutschland und Österreich, aber leider sind darunter bisher noch keine Studierenden aus der Tschechischen Republik. Was ich mir also wünschen würde, wäre eine insgesamt größere Beteiligung der tschechischen Studentinnen und Studenten.
Für wen Ihrer Meinung nach sind diese Studienangebote geeignet?
Ein Interesse an Philosophie und eine Begabung, sich mit philosophischen Fragestellungen zu befassen, sind natürlich die allgemeine Voraussetzung. In der thematischen Ausrichtung ist das Programm jedoch sehr offen. Ich mache in den letzten Jahren immer wieder die Erfahrung, dass zunehmend mehr junge Menschen an fächerübergreifenden Fragestellungen interessiert sind, also gern interdisziplinär arbeiten. Ich denke, dass sich danach auch unser Studienangebot ausrichten sollte. Eigentlich entspricht dies ja auch ganz dem Profil der Fakultät selbst, das interdisziplinär im Bereich der Humanwissenschaften organisiert ist.
Haben Sie irgendwelche Kommunikationsprobleme mit Ihrer Studenten oder Kollegen an unserer Fakultät? Welche Fremdsprachen sprechen Sie?
An tschechischen Bildungseinrichtungen habe ich stets sehr positive Erfahrungen gemacht, sowohl was den Kontakt mit Studierenden wie mit Kolleginnen und Kollegen betrifft. Ich schätze es besonders, dass man in der Tschechischen Republik mit Recht erwartet, dass Betreuer von Arbeiten, gleich, ob es Hausarbeiten, Masterarbeiten oder Dissertationen sind, der individuellen Diskussion mit den Studierenden viel Zeit widmen. Auf diese Weise entstehen Missverständnisse meist erst gar nicht oder können frühzeitig ausgeräumt werden. Und wenn es um konkrete Sprachprobleme geht, hilft dann meist das Englische.
Könnten Sie bitte ein oder mehrere Bücher nennen, die Sie in der letzten Zeit gelesen haben, und die für Sie sehr interessant waren?
1. The Teotihuacan Trinity. The Socialpolitical Structure of an Ancient Mesoamerican City von Annabeth Headrick (Austin: University of Texas Press 2007). Dies ist der erste Versuch, eine auf solidem empirischen Material basierende Gesamtdeutung der gesellschaftlichen Struktur der frühen mexikanischen Kultur von Teotihuacan vorzunehmen, die – mit Ausnahmen von einigen wenigen erhaltenen, aber bis heute nicht entschlüsselten Glyphen – keine Schriftzeugnisse hinterlassen hat und deren Sprache wir nicht kennen.
2. The Undying Lamp of Zen: The Testament of Zen Master Torei [Shumon mujintoron] in der Übersetzung von Thomas Cleary (Boston/London 2010). Torei Enji war Schüler des berühmten Hakuin aus der Rinzai-Zen-Schule und lebte im Japan des 18. Jahrhunderts. Dieses Buch ist insofern bemerkenswert, weil hier ein früher und prominenter Vertreter des japanischen Zen-Buddhismus das Unmögliche versucht: nämlich mit Worten zu beschreiben, was eigentlich nicht in Worte zu fassen ist – die Praxis des Zen.
Welche pädagogische oder wissenschaftliche Pläne haben Sie in Zukunft?
In erster Linie möchte ich dabei mitwirken, dass Studierende an unserer Fakultät auch fächerübergreifende Themen behandeln können, und ihre Kreativität für eigene, besondere Ansätze fördern. Was meine philosophische Arbeit betrifft, wird es vor allem darum gehen, das genannte Projekt einer Oikologie fortzusetzen. Neben einigen editorischen Arbeiten wird die Trilogie zur Phänomenologie der Epoché, von der ein Band erschienen und ein weiterer in Vorbereitung ist, abzuschließen sein. Auch eine Monographie über die Perspektive aus leibtheoretischer Sicht sowie eine Monographie zu Nietzsche und ein – sehr altes – Buchprojekt zum Marquis de Sade stehen für die nächste Zeit auf dem Programm.
Was würden Sie der Fakultät für Geisteswissenschaften und sich selbst an dieser Fakultät wünschen?
Dass wir die eröffneten Wege mit Energie und Ausdauer weiter beschreiten und dafür Sorge tragen, dass, wenn unsere Studentinnen und Studenten die Fakultät wieder verlassen, sie sagen können, es hat sich gelohnt, hier gewesen zu sein.
Herr Sepp, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.
Kateřina Tourková
20. 8. 2013
Charles University
Faculty of Humanities
Pátkova 2137/5
182 00 Praha 8 - Libeň
Czech Republic